Visible Speech

From Glottopedia
Jump to navigation Jump to search

Visible Speech [ VS in VS.jpg ] ist das Konzept einer phonetischen Notation, das in den 1860ern von Alexander Melville Bell (1819-1905) entwickelt wurde.

Der schottische Lehrer und Forscher auf den Gebiet der Orthoepie und Sprecherziehung entwarf hiermit ein phonetisch motiviertes, ikonisches Notationssystem, dessen Zeichen unmittelbar Informationen bezüglich des Artikulationsortes und der Artikulationsart des jeweiligen Lautes kodieren. Ursprünglich war Visible Speech (VS) als Hilfsmittel gedacht, um im Besonderen Gehörlosen einen leichteren Zugang zur korrekten Artikulation von Lauten zu ermöglichen, wobei Bell eine mögliche Verwendung als Universales Alphabet relativ bald betonte. Im Laufe der Jahre wurde VS von Henry Sweet (1845-1912) überarbeitet und erweitert. Und auch Bell's Sohn Alexander Graham Bell (1847-1922) erweiterte das Konzept um einen weiteren Aspekt. Im Vergleich zu seinem Vater verbildlichte er die gesprochene Sprache mithilfe eines Spektrographen. Seine Idee war es, das Gesprochene anhand der Frequenzlinien sichtbar und lesbar zu machen. Trotz vieler Fürsprecher, besonders in Kreisen der Gehörlosenschulen, konnte sich VS auf Dauer nicht durchsetzen.

Die Bells

Den Einstieg in die Arbeit mit Sprache und Kommunikation fand Melville Bell bereits in frühen Jahren, da auch schon sein Vater Alexander Bell (1790-1865) eine Größe seiner Zeit auf dem Gebiet der Phonetik und der Sprachstörungen war. Sein besonderes Interesse galt Menschen, für die der Akt des Sprechens eine beängstigende Herausforderung darstellte. Nachdem er verschiedene Werke über seine Arbeit zu diesem Thema veröffentlicht hatte, darunter „The Practical Elocutionist“ und „Stammering and Other Impediments of Speech“, wurde er 1838 von der Londoner Presse als "the celebrated Professor of Elocution" betitelt. Auch seinen Söhnen David und Melville legte Alexander Bell die Mechanismen und Methoden der gesprochenen Sprache nahe. Während sich David Bell bald in Dublin als Lehrer für Rhetorik nieder ließ, stürzte sich Melville an der Seite seines Vaters enthusiastisch in die Arbeit an Sprechtechniken. Melvilles großes Interesse an Sprachtherapie wuchs umso mehr, als er sich in eine seiner Patientinen verliebte. Eliza Grace Symonds war eine gehörlose Malerin und sollte zunächst Antrieb für Melville und später Mutter ihrer drei gemeinsamen Söhne sein. Und auch ihr Zweitgeborener, Alexander Graham Bell, war fasziniert von Kommunikation und Sprache. Beeindruckt von seiner Mutter, die mittlerweile zu einer talentierten Pianistin avanciert war und geprägt durch seinen Vater, spielte auch in seinem Leben die Arbeit mit Gehörlosen und das Erfinden von Geräten, die Sprache zeigen, ausgeben oder gar übermitteln könnten eine Große Rolle (pbs:§1).

Visible Speech

Bereits 1864 veröffentlichte Melville Bell seine ersten Arbeiten zu VS. 1867 dann, stellte er sein offizielles Konzept vor: "Visible Speech: The Science of Universal Alphabetics". Das Buch ist vier Hauptteile gegliedert, denen einige einführende Seiten mit lobhudelnden Erfahrungsberichten und Einblicken in die Vorteile von VS voraus gehen. In den Hauptteilen wird der Aufbau von VS ausführlich beschrieben und zahlreiche Übungen (auch im Anhang) aufgeführt. Außerdem beschreibt Bell hier etliche „alltägliche“ und experimentelle Anwendungsgebiete für seine Technik. Unter Anderem (Bell, 1867: 20)

Vs Anwendung.jpg

Aufbau

Als Ikonisches System ist das primäre Ziel von VS, möglichst direkt und transparent phonetische Eigenschaften von Lauten abzubilden. So beschrieb auch Bell selbst (Bell, 1867: 35):

„The fundamental principle of Visible Speech is, that all Relations of Sounds are symolized by Relations of Form. Each organ and each mode of organic action concerned in the production or modification of sound, had its appropriate Symbol; and all Sounds of the same nature produced at different parts of the mouth are represented by a Single Symbol turned in a direction corresponding to the organic position.“

Außerdem kommt VS mit nur zehn Basiszeichen aus, mit denen alle Konsonanten und Vokale geformt werden können: Beispiel.jpg

Konsonanten

Die Konsonanten im VS geben die Basisgröße der Zeichen vor, wobei sie die (gedachten) Grundlinien weder nach oben noch unten über-, bzw. unterschreiten. Die Grundform ist gerundet und beschreibt eine Art Kurve, mit deren Hilfe sich die vier Hauptartikulationsorte1 darstellen lassen: Die Zungenwurzel (back), der Zungenrücken (top), der Zungenspitze (point) und der Lippen (lip). (Abb.2)

Beispiel2.jpg

Die Anordnung der Artikulatoren basiert auf der sagittalen Ansicht des Artikulationsapparates (Abb.3). Das jeweilige Grundsymbol stellt hier lediglich den jeweiligen Ort der Verengung im Rachenraum dar und kommt somit stimmlosen Lauten mit approximantischen Merkmalen gleich.

Beispiel3.jpg

Um nun die jeweiligen Merkmale für Stimmhaftigkeit, Nasalität und Plosivität auszudrücken, werden die einzelnen Grundsymbole modifiziert. Am Beispiel der labialen und uvularen Laute sähe das, wie folgt aus (Abb.4):

Beispiel4.jpg

Das jeweilige Symbol am rechten Rand ist eine Kombination aus dem Grundsymbol und einer Art Schnörkel und markiert eine nasale Artikulation. Das nächst-linke Symbol, eine Kombination aus Grundsymbol und einem Strich an der geöffneten Seite, stellt die Plosive dar. Das davon links stehende Symbol, welches eine Art Delle hat, wird von Bell für sogenannte „devided sounds“ verwendet, wobei er damit auf Konsonanten verweist, die ein laterales, bzw. Enge-bildendes Verhalten beim Ausströmen der Luft aufweisen. Im Fall der Labiale könnte dieses einem IPA /f/ entsprechen. Es handelt sich hierbei jedoch immer noch um stimmlose Laute. Das Zeichen für Stimmhaftigkeit wird nach dem gleichen Schema mit einem Strich, senkrecht zur Kurve illustriert. Außerdem beinhaltete Bell's Notation auch „Kurvensymbole“ für Laute mit zwei beteiligten Artikulatoren, die dann nach außen gewölbte Kurvenenden besitzen (Abb.5).

Beispiel5.jpg

Bell versteht diese so, dass sie primär an einer Stelle artikuliert werden (z.B. /wh/, primär labial) und an einer zweiten, entgegen gesetzten Stelle modifiziert werden (bei /wh/, die Zungenwurzel).

Wie man in Abb.3 außerdem erkennen kann, hat Bell auch vier laryngale Konsonanten bezeichnet, die er, wie folgt definiert hat (Abb.6):

Beispiel6.jpg

Vokale

Im Gegensatz zu Bell's Konsonanten ist die Form der Vokalsymbole (Abb.7) eher dünn und länglich, außerdem können sie die Grundlinie, anders als die Konsonanten, nach oben (bei hohen Vokalen), nach unten (bei tiefen Vokalen) oder in beide Richtungen (bei mittleren, bzw. „mixed“ Vokalen) über-, bzw. unterschreiten. Der Artikulationsort wird durch die Richtung eines kleinen Hakens an der (vertikalen) Vokallinie markiert: nach rechts (bei vorderen Vokalen), nach links (bei hinteren Vokalen) und in beide Richtungen (bei zentralen, bzw. „mixed“ Vokalen). Beispiel7.jpg

Bei sogenannten Primärvokalen ist das Ende des Hakens zu einer kleinen „Kugel“ gerollt, bei offenen Vokalen nicht. Bell's Unterscheidung in „primary vocal“ und „wide vocal“ kann man weitestgehend mit der Unterscheidung in gespannte und ungespannte Vokale, bzw. mit dem Merkmal für „tongue-root advancement“ vergleichen. Bell erklärt den Unterschied zu Primärvokalen, wie folgt: „[wide vocals] have an additional expansion of the soft palate, enlarging the back cavity of the mouth.” Lippenrundung wird durch einen Querbalken in der Mitte des Vokalsymbols signalisiert (Abb.8).

Beispiel8.jpg

Gleitlaute und Modifikatoren

Bell hat eine Reihe kleinerer Symbole für Gleitlaute (Abb.9,10) eingeführt, diese sind allerdings ziemlich umständlich im Vergleich zur Darstellung im IPA. (Auch Sweet hat besonders diesen Teil und den der Modifikatoren (Abb.11) überarbeitet und praktikablere Zeichen vorgestellt.)

Beispiel9.jpg Beispiel10.jpg


Auch führte Bell eine Reihe neuer Symbole für Modifikatoren ein, diese können theoretisch mit jedem anderen Symbol kombiniert werden. Sie nehmen jedoch, im Vergleich zu im IPA den Platz eines eigenständige Buchstabens ein, dies ist möglicherweise auf eine einfachere Handhabung beim Druck zurück zu führen, da sich einzelne Lettern besser setzen lassen, als Diakritika.

Beispiel11.jpg

Sweets Veränderungen

Henry Sweet versuchte leichte Abänderungen des VS vorzunehmen, die seine Vorstellung von einem „organic alphabet“ konsistenter und „handlicher“ machten und an den damals aktuellen Stand der Phonologie anpassen sollten. So führte er in seinem Werk „Sounds and Notations“ zum Beispiel eine Art Diakritikum ein (Sweet,1881:212), das erlaubte, jedem Konsonanten einen entsprechenden Gleitlaut zuzuordnen. Wobei auch dieses Symbol, genau wie bei Bell, nicht an den jeweiligen Konsonanten angefügt wird, sondern einen eigenen Platz als Buchstabe bekommt.

Im Fall der vokalischen Gleitlaute ersetzte Sweet weitestgehend alle von Bell eingeführten Zeichen durch kleinere hochgestellte Versionen der einzelnen Vokalsymbole (Sweet, 1881:210ff, 214). Diese Gleitlautsymbole haben alle die gleiche Größe und bleiben auf der gleichen Höhe (im Gegensatz zu den Vokalen). Bell hatte sein Konsonantensystem auf die Visualisierung des jeweiligen Artikulationsortes aufgebaut, Sweet empfand dieses jedoch, speziell die labiodentalen Frikative betreffend, durchaus inkonsequent. Daher unternahm er auch hier Maßnahmen zur Homogenisierung des Systems. Er führte hierzu ein neues „zahnförmiges“ Konsonantensymbol (Sweet, 1881:205) welches in zwei Positionen auftreten kann: Symbol1.jpgfür /f/ undSymbol2.jpg für /θ/ und die stimmhaften EntsprechungenSymbol3.jpgfür /v/ undSymbol4.jpgfür /ð/.

Ähnlich verfuhr Sweet mit den Sibilanten, hierfür führte er ein neues SymbolSymbol5.jpg für /s/ ein,

ein weiteres leicht modifiziertesSymbol6.jpgfür /z/ und nutzte diese spiegelverkehrtSymbol7.jpgfür /ʃ/ undSymbol8.jpgfür /ʒ/.

Außerdem trennte er sich von den meisten „mixed“ Konsonanten Bell's und nutzte vorzugsweise Diakritika um entsprechende Modifikationen auszudrücken (Sweet, 1881:215f).

Das Ende

Der Grund dafür, dass sich Visible Speech, trotz seines intuitiven Aufbaus nicht durchsetzen konnte, setzt sich sicherlich aus verschiedenen Faktoren zusammen. Zum einen handelte es sich dabei um ein vollkommen neues Schriftsystem, welches komplett neu hätte erlernt werden müssen. Und das hätte wiederum sowohl für die Menschen im Allgemeinen, als auch besonders für die Schriftsetzer eine (zu) große Umstellung bedeutet. Zum anderen entwickelte die International Phonetic Association schon wenig später (1888) das IPA, welches weitgehend mit den bereits bekannten lateinischen Buchstabensymbolen auskam.

Die Linguistin Eugénie J.A. Henderson, die sich eingehend mit Studien zu Henry Sweet beschäftigte erklärte den Misserfolg seines Alphabets, wie folgt (Lee:41)

„... Sweet's organic Alphabet lacked, unfortunately, the royal support which ensured the adoption of Hunmin Jeongeum by the Korean nation, and printing difficulties obliged him in his later writings to use in his phonetic transcriptions the adapted forms of the Roman letters that linguists are familiar with today in the alphabet of the International Phonetic Association.“

Quellen