Judenspanisch

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Allgemeine Angaben

Das Judenspanische, auch Sephardisch (sefardí) genannt, ist eine weitgehend archaische Varietät des Spanischen und Sprache der Sephardim. (Berschin 2005:20/ Sala 1998: 375) Diese Bezeichnung, die von hebräisch sepharad ‘Spanien’ abgeleitet ist, steht für die 1492 in Folge des Edikts der Katholischen Könige Ferdinand und Isabella aus Spanien vertriebenen Juden. (Berschin 2005:20) Die ca. 200 000 emigrierten Juden siedelten sich gröβtenteils in der Gegend des ehemaligen Ottomanischen Reichs, v.a. auf der Balkanhalbinsel, an. Dort wurde ihnen religiöse Freiheit gewährt und sie konnten als wirtschaftlich- technische Elite ihre kulturelle und ethnische Identität weitgehend bewahren. (Berschin 2005:21) Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Sephardim auf dem Balkan durch die deutschen Besatzer fast vollständig ausgerottet. (Berschin 2005:21)

Das Sephardische ist nur sehr selten Erstsprache, monolinguale Muttersprachler gibt es überhaupt nicht mehr. (Berschin 2005:21) In „gruppenbestimmten Lebensbereichen“ (Berschin 2005:20) wird die Sprache heute noch verwendet. Das Sprachgebiet umfasst die Balkanstaaten, d.h. die Türkei, Griechenland, Jugoslawien, Bulgarien und Rumänien, außerdem Marokko, die USA, Israel und Frankreich. (Sala 1998: 375) Genaue aktuelle Sprecherzahlen sind nicht bekannt. Bollée und Neumann- Holzschuh gehen von ca. 160 000 (Bollée 2003: 118), Berschin von bis zu 400 000 (Berschin 2005:20) Sprechern aus. Somit gilt das Judenspanische als vom Aussterben bedrohte Sprache. (Berschin 2005:21)

Man unterscheidet zwischen Djudezmo, d.h. der Alltagssprache, und Ladino. (Bollée 2003: 117f.) Letztere ist eine reine Literatursprache, die bei der wortwörtlichen Übersetzung von liturgischen und biblischen Texten aus dem Hebräischen und Aramäischen in ein Spanisch des 13.Jh. entstand. Es handelt sich um eine Replikarsprache, deren Modellsprache das Hebräische ist. (Sala 1998: 375)

Das Judenspanische kann in zwei Phasen untergliedert werden: Mit „Sefarad I“ wird die Phase des gesprochenen Judenspanisch in Spanien vor der Vertreibung der Juden bezeichnet. Es unterschied sich lediglich durch ein paar Besonderheiten im Lexikon, die durch die Religion bedingt waren, vom Spanisch der Christen und Moslems. „Sefarad II“ steht für die Phase nach der Emigration der Sephardim. (Sala 1998: 375f.) Anders als die anderen judenromanischen Sprachen (Judenromanisch) weist das Judenspanische eine klare Struktur auf. (Sala 1998: 372)

Besonderheiten des Judenspanischen (Djudezmo) im Vergleich zum Standardspanischen

Da das Judenspanische sich getrennt vom Castellano in Spanien entwickelt hat, weist es -im Gegensatz zu anderen judenromanischen Sprachen- starke Unterschiede zum Standardspanischen auf. (Bollée 2003: 117) Diese Besonderheiten des Sephardischen lassen sich in vier Gruppen unterteilen: Es gibt erstens Formen, die im Judenspanischen im Gegensatz zum Standardspanischen - gerade durch die oben erwähnte sprachliche Trennung - erhalten geblieben sind, sog. Archaismen, zweitens Formen, die im Judenspanischen verschwunden sind, im Standardspanischen jedoch weiterhin verwendet werden, drittens Formen, die im Judenspanischen neu entstehen und im Standardspanischen nicht vorhanden sind und viertens Formen, die sich in Folge von Sprachkontakt im Judenspanischen entwickelt haben. (Sala 1998: 376)


Archaismen

In einigen Fällen wird im Judenspanischen auf regionaler Ebene ein Sprachzustand bewahrt, der einer älteren Sprachstufe entspricht. (Bollée 2003: 117) Im Bereich der Phonologie fällt auf, dass das Konsonanteninventar des Spanischen des 15.Jh. weitgehend erhalten geblieben ist und mit ihm die Unterscheidung zwischen den Frikativen s und z, vgl. paso, kaza, und ŝ und ž, vgl. páŝaro, aženo. (Sala 1998: 376) Die Phoneme /∫/, z.B. dechar ‘dejar’, /dʒ/, wie in djudio, und /ʒ/, wie in ijo ‘hijo’ bestehen im Judenspanischen ebenfalls weiterhin. (Sala 1998: 376) Zudem sind d und g in intervokalischer Stellung okklusiv. Wie im Altspanischen wird am Wortanfang und in nachkonsonantischer Stellung ğ gesprochen, z.B. ğugar und anğel, während die Aussprache in intervokalischer Stellung ž ist, beispielsweise mužer. (Sala 1998: 376) Hinzu kommen regionale Besonderheiten: Im Westen des Balkans ist das anlautende f in lateinischen Wörtern, wie ferir, fumo, erhalten. Im Nordwesten der Balkanhalbinsel und in der Türkei wird der Affrikativ dz, der u.a. in ondzi und podzu vorkommt, bewahrt, in Sarajevo und Bukarest der labiodentale Frikativ v, beispielsweise in lavar. (Sala 1998: 376)

Auch die Morphologie des Djudezmo unterscheidet sich teilweise vom Standardspanischen, v.a. was die Flexion der Verben betrifft. So heiβt es im Judenspanischen z.B. so, esto, vo, do statt soy, estoy, voy, doy. Für die dritte Person des Präteritum sind teilweise ehemalige Varianten geläufig. Als Beispiele kann man hier truŝo und vido statt trajo und vio anführen. An Stelle von os bleibt vos erhalten. (Sala 1998: 376)

Unterschiede können darüber hinaus in der Syntax auftreten. Dies ist v.a. in den Romanzen der Fall. Beispiele sind el mi ermano, el libro tuyo.

Das Lexikon weist zahlreiche archaische Wörter auf. Dazu zählen atorgar, kazal, merkar, trokar und yantar. (Sala 1998: 376)


Schwund von im Standardspanischen erhaltenen Formen

Der Schwund von im Standardspanischen erhaltenen Formen im Judenspanischen betrifft zum einen die Morphologie: Verbale Tempora, die im Castellano noch existieren, gingen im Djudezmo verloren. Dazu zählen der Subjuntivo auf –se (pretérito imperfecto) und auf –re (futuro imperfecto). (Sala 1998: 376)

Zum anderen kam es im Lexikon zum Schwund von vielen spanischen Wörtern, v.a. aus dem Bereich der Natur. Hier gibt es jedoch einige Ausnahmen: Pašaro, die Kollektivbezeichnung für große Vögel, pašariko, die Kollektivbezeichnung für kleine Vögel und Singvögel, und arvole, die allgemeine Bezeichnung für Baum, an die der Name der Frucht angehängt wird, z.B. arvole de pera, arvole de mansana, werden im Judenspanischen weiterhin verwendet. Das Gleiche gilt für die spanischen Bezeichnungen für Haustiere, z.B. kavaio ‘Pferd’, vaka ‘Kuh’, buei ‘Rind’, für Tiere aus der unmittelbaren Umgebung des Menschen, z.B. rana ‘Frosch’, ratón ‘Maus’, palomba ‘Taube’, für Kulturpflanzen, wie trigo ‘Weizen’, mansana ‘Apfel’, sereza ‘Kirsche’, sevoia ‘Zwiebel’ sowie für den menschlichen Körper und Verwandtschaftsverhältnisse. Letztere sind am besten erhalten. (Sala 1998: 376) Des Weiteren schwanden einige spanische Synonyme. So gibt es für ‘klein’ im Sephardischen nur noch die Bezeichnung chico und nicht mehr pequeño. (Sala 1998: 376)


Neuentstehung von Formen

Das Judenspanische unterscheidet sich durch einige phonetische Entwicklungen vom Standardspanischen. Als Ergebnis des Schwunds der Opposition von /s / und / š/ - im Judenspanischen gibt es kein /θ/ - tritt s auf. Auβerdem ist die Sprache durch den Yeismo, vgl. sevoia ‘Zwiebel’, iave ‘Schlüssel’, und Über- bzw. Unterdiphthongierungen, wie in ken ‘quien’, mostro ‘muestro’, pierder ‘perder’ und pueder ‘poder’, gekennzeichnet. Im Nexus sue- entwickelt sich ein Frikativ x, z.B. sxueniu ‘sueño’ und sxuegra ‘suegra’. -rd- wird zu -dr-, Beispiele sind godro und vedre. Im Westen der Balkanhalbinsel schließen sich die unbetonten Endvokale e, o zu i, u. (Sala 1998: 376f.)

Auch im Bereich der Morphologie entstehen neue, dem Judenspanischen eigene Formen. So wird beispielsweise die Endung –í in der 1. Person Singular Präteritum generalisiert. Ein weiteres Phänomen ist die Übertragung des m von –mos (1. Person Plural) auf nos, nosotros, mit dem Ergebnis mos, nosotros. (Sala 1998: 377)

Was Veränderungen im Lexikon betrifft, so erhalten viele spanische Wörter eine neue Bedeutung. Teralaña bedeutet zum Beispiel sowohl ‘Spinnennetz’ als auch ‘Spinne’. Es gibt darüber hinaus viele Ableitungen mit den Suffixen -ada, -asion, -dero, -dor, -es, -iko, -ižo, -on und -ozo, wie in apartižo ‘Trennung’, empesižo ‘Anfang’, pensižo ‘Gedanke, Idee’. (Sala 1998: 377)


Entwicklungen in Folge von Sprachkontakt

Die Entwicklungen, die im Djudezmo in Folge von Sprachkontakt entstanden sind, sind sehr vielseitig und betreffen alle Bereiche der Sprache, allerdings in unterschiedlichem Maße. Kontaktsprachen, die das Sephardische - besonders im Bereich des Lexikons -stark beeinflussen, sind die Balkansprachen, in erster Linie das Türkische, sowie das Italienische, das Französische, das Hebräische und, in sehr geringem Maβe, das Jiddische. (Sala 1998: 377)

Zu den phonologischen Entwicklungen in Folge von Sprachkontakt zählen das Auftreten eines Phonems /ŝ/ und die Phonologisierung von ğ und ž. Zudem treten Phoneme an Positionen im Wort auf, die für das spanische Ursprungswort unüblich sind, so kommt /z/ auch am Wortanfang und –ende, nicht nur im Wortinneren vor, vgl. kamiza, ermozo, azno, deznudo; zaxút, zuná, zirdilis; cizméz, xazné. Dies ist ebenso der Fall bei /v/, /b/, /f/, /p/, /k/, /g/ und /č/. Es kommt zu neuen Kombinationen von Phonemen und Konsonantengruppen, z.B. pk, wie in topka ‘Ball, Kugel’ von bulg. topka, und ft, wie in kefté ‘Hackfleischküchlein’ von türk. k’öfté. (Sala 1998: 377)

Auch die Morphologie wird durch Sprachkontakt beeinflusst. Es werden zum Beispiel zwei Endungen hebräischen Ursprungs, nämlich –im (m.) und –ot (f.), zur Pluralbildung, v.a. von hebräischen Wörtern, verwendet. Teils treten auch tautologische Pluralbildungen, z.B. malaxim+ -es, auf. Eine weitere Möglichkeit der Pluralbildung stellt die Verwendung des Suffixes –lik, das türkischen Ursprungs ist, dar. Ein Beispiel ist purim+ - lik + -es. In seltenen Fällen wird der Plural auch mit –lar (m.), ein Suffix ebenfalls türkischen Ursprungs, gebildet. Die Verwendung des Infinitivs an Stelle des Subjuntivo in manchen Konstruktionen ist eine weitere Entwicklung in der Morphologie. (Sala 1998: 377)

Am stärksten durch den Sprachkontakt beeinflusst ist das Lexikon. Standardspanische Wörter sind im Djudezmo kaum erhalten. Viele Entlehnungen stammen aus den Balkansprachen, v.a. dem Türkischen. Dazu gehören u.a. Begriffe zum Wortfeld Haus -mit Ausnhame von kaza-, wie kapak ‘Deckel’, kibrit und parlak ‘Streichhölzer’, sowie Begriffe zur Bezeichnung von Haushaltsgegenständen, Gerichten, Kleidung und Schmuck. (Sala 1998: 377f.) Die Balkansprachen dienen zudem als Modell für semantische Nachahmungen, vgl. ora ‘Uhrzeit, Stunde’ und ‘(Wand-) Uhr’ nach dem Vorbild türk. saát. Auch feststehende Ausdrücke werden nachgeahmt, beispielsweise bever tutun ‘Tabak trinken’, was so viel bedeutet wie ‘rauchen’ und von türk. tütün içmek. Im Ladino hingegen ist das Hebräische Modell. Auch dort sind Veränderungen in Folge von Sprachkontakt aufgetreten, besonders in Morphologie und Syntax. Nachgeahmt werden u.a. Genus bzw. Numerus, wie aguas, vidas, sangres, die wie im hebräischen Text im Plural stehen. Die Folge der wörtlichen Übersetzung aus dem Hebräischen ist eine teils schwer zugängliche Wortstellung. Weitere Entwicklungen, die durch Sprachkontakt zustande kamen, sind das häufige Fehlen des Verbs „sein“ sowie die Wiedergabe vieler hebräischer Präpositionen durch die Präposition a, die Zugehörigkeit ausdrückt. (Sala 1998: 378)


Geographische Unterteilung

Es gibt verschiedene dialektale Besonderheiten im Judenspanischen. Diese betreffen teilweise entweder nur das Djudezmo oder nur das Ladino. Man kann verschiedene geographische Unterteilungen des judenspanischen Sprachgebiets vornehmen. Wagner unterteilte die dialektalen Besonderheiten beispielsweise in zwei Zonen, nämlich in den Ost- und den Westbalkan. Dies wird heute jedoch in der Forschung kritisiert. Stattdessen wird zwischen dem Judenromanischen Konstaninopels und dem Salonikis, das Zentrum der sog. „westlichen Gruppe“, unterschieden. Unterschiede zwischen den anderen Dialekten erklären sich durch die Ausdehnung von Besonderheiten von einer der beiden letztgenannten Gruppen auf die andere. Dialekte des Balkans gehen ausnahmslos auf Dialekte Neukastiliens und Andalusiens von 1492 zurück. (Sala 1998: 378f.)

Unterteilung nach sozioökonomischen Faktoren

Das Judenspanische kann nicht nur nach geographischen, sondern auch nach verschiedenen sozioökonomischen Faktoren eingeteilt werden. Dabei nehmen verschiedene sozioökonomische Gruppen eine Sonderstellung ein, da sie sich durch ein besonderes Merkmal von der restlichen Bevölkerung unterscheiden. Zu diesen Gruppen gehören Sprecher, die die rabbinische Schule besucht haben, die das code switching praktizieren oder die stark vom Französischen beeinflusst sind, sog. Frankeados. Auβerdem wird unterschieden nach sozialen Schichten, nach Geschlechtern - Frauen verwenden zum Beispiel vorzugsweise bestimmte Synonyme-, verschiedenen Altersgruppen - die Sprache der Jugendlichen ist z.B. stark vom Italienischen und Französischen beeinflusst - sowie nach Situationen, die durch sog. restricitve codes bestimmt werden. Ein Beispiel hierfür ist die Verwendung von hebräisch- aramäischen Wörtern, die nicht verstanden werden sollen, im Bereich des Handels. (Sala 1998: 379)

Verbreitung des Judenspanischen heute

Die Verbreitung des Judenspanischen ist heute von Land zu Land sehr unterschiedlich. Man kann von zwei Extremen sprechen, nämlich von Israel, wo das Judenspanische sogar Pressesprache ist, und Bukarest, wo es nur noch innerhalb der Familie gesprochen wird und von der jungen Generation überhaupt nicht mehr. Die anderen Länder sind dazwischen anzusiedeln. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die Sprecherzahlen in vielen Regionen der Balkanhalbinsel stark abgenommen, wodurch der Gebrauch des Judenspanischen heute sehr eingeschränkt ist. Dies ist vor allen Dingen auf ökonomische und politische Ursachen zurückzuführen. Durch die Entstehung eines nationalen Bürgertums beschränkten sich die Juden auf den Kleinhandel. Des Weiteren führte die Entstehung von Nationalstaaten auf der Balkanhalbinsel zur Schließung von judenspanischen Schulen. (Sala 1998: 379) Infolgedessen wurde das Sephardische immer mehr zur Heimsprache. (Busse 1991: 83) Als weitere Ursachen sind der Einfluss des Französischen, das geringe kulturelle Prestige der Sprache, die geringe religiöse Verankerung der Sprecher, das Fehlen einer sich weiterentwickelnden Kultur, eines starken Gemeinschaftslebens und eines Judenspanisch- Unterrichts sowie der Mangel an Beziehungen zu Spanien zu nennen. (Sala 1998: 379)


Literaturhinweise:

Berschin 2005: BERSCHIN, Helmut u.a.: Die Spanische Sprache. Geschichte. Verbreitung. Struktur. 3. Auflage. Hildesheim 2005.

Bollée 2003: BOLLÉE, Annegret/ I. Neumann- Holzschuh: Spanische Sprachgeschichte. Stuttgart 2003.

Busse 1991: BUSSE, Winfried: „Zur Problematik des Judenspanischen“. In: Neue Romania 12 (1991), S. 37-84.

Sala 1998: SALA, Marius, „Die romanischen Judensprachen / Les langues judéo-romanes“ (Art. 476). In: HOLTUS, Günter/ M. Metzeltin/ C. Schmitt (Hrsg.), Lexikon der Romanischen Linguistik (LRL) Bd.7, Tübingen 1998, S. 375- 383.