Gustav Herdan (de)

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Geb. 21.1.1897 in Brünn (Mähren; Mutter Anna, Vater Adolf, Kaufmann); gest. 16.11.1968 (Bournemouth). Jurist, Statistiker und Linguist. Besuch der ersten deutschen Staatsrealschule in Brünn, Reifezeugnis 1915, Maturitätszeugnis Staatsgymnasium Brünn 1916, Studium der Rechtswissenschaft ab WS 1917/18 in Wien und Prag (deutsche Universität), dazwischen 2 Jahre Militärdienst; Promotion 1923 an der deutschen Universität Prag; zu dieser Zeit wurden von Jura-Promovenden keine Disser-tationen verfasst. Danach Tätigkeit am Landesgericht Brünn; ab 1933 Studium vor allem des Chinesischen in Berlin, London (Diplom für klassisches Chinesisch), Prag und Wien, 1937 in Wien abgeschlossen mit Promotion in Sinologie (ostasiatische Sprachen) und englischer Philologie. 1938 Emigration nach England; Studium der Mathematik und Statistik; stellt 1939-1945 seine Kenntnisse der Statistik in den Dienst der englischen Kriegswirtschaft. Arbeit als Statistiker in der Industrie. Ab 1948 „Lecturer in Statistics“ in der Faculty of Medicine der Universität Bristol. Mitglied der American Statistical Society, Fellow der Royal Statistical Society, Mitglied der Linguistic Society of America. Herdans große Bedeutung für die Sprachwissenschaft besteht darin, dass er wohl als erster eine Gesamtdarstellung der Quantitativen Linguistik vorgelegt hat. Ein wesentlicher Aspekt seiner Arbeit ist die Entwicklung und Überprüfung von mathematisch formulierten Sprachgesetzen („statistical laws“). Seine Auffassung hierzu kommt u.a. im folgenden Zitat zum Ausdruck: „The masses of linguistic forms...are a part of the physical universe, and as such are subject to the laws which govern mass assemblies of any kind... This is how the need for statistical linguistics arises“ (Herdan 1960a: 3). In Anknüpfung an Saussures Dichotomie von langue und parole sowie an die Informationstheorie und Kybernetik steht er zusammen mit Pierre Guiraud und Charles Muller für den Aufschwung der Quantitativen Linguistik in den 1950er/ 1960er Jahren (Aichele 2005: 18). Dabei behandelt er eine große Vielfalt von Themen: Fragen der Identifikation anonymer Autoren, Stilometrie, Sprachwandel und -mischung, Anwendung der Informationstheorie, Type-token-Relation, Wortlängen- und Wortfrequenzverteilungen, Zusammenhang zwischen Textlänge und Vokabularumfang sowie zwischen Stilistik und Sprachtypologie. Ein weiteres Thema ist ihm das Deutsch der Nationalsozialisten (Herdan 1960a: 263ff.). In seinen Werken werden etliche Sprachgesetze vorgestellt, darunter die Zipf- bzw. Zipf-Mandelbrot-Verteilung, Poisson-Verteilung, Lognormalverteilung. Auch wenn nicht jedes Detail heute genau so gesehen wird wie von ihm, ist Herdan doch einer der Pioniere der Quantitativen Linguistik. Zu vielen dieser Theman hat er mit der Unterstützung seiner Studenten eine Fülle von Daten erarbeitet, die man auch aus dem Blickwinkel neuer theoretischer Überlegungen nutzen kann (vgl. z.B. Best & Zhu 2001: 103ff.). Herdan studierte eher Philologie als Linguistik und haftete – wie zu seiner Zeit alle Linguisten – an den Lehren von F. de Saussure und denen des Prager Strukturalismus. Dieser Hintergrund öffnete ihm einige Tore, auf der anderen Seite hinderte er ihn, einen Schritt weiter zu gehen. 40 Jahre nach seinem Tod und in Anbetracht der Entwicklung in der Quantitativen Linguistik ist es nicht schwer, die Irrtümer zu sehen, denen er unterlag. Seine Kritiker, die ihn eher vom linguistischen Standpunkt aus rezensiert haben, kritisierten mehr seinen „nichtlinguistischen“ Blick auf Sprachphänomene und ihre Interpretationen, seltener seine Methoden. Nichtsdestoweniger brachte er eine ganze Reihe von Problemen zum Vorschein, deren konsequente Weiterführung neue Bereiche der Linguistik eröffnen könnte. Herdan nahm den Kampf mit „qualitativen“ Linguisten betont engagiert auf und griff besonders die Vertreter der damals sich neu entwickelnden generativen Grammatik bei jeder Gelegenheit an. Diplomatie war nicht gerade seine starke Seite. In damaliger Zeit konnte er die Auseinandersetzung nicht für sich entscheiden; heute hat sich die Situation jedoch beträchtlich geändert. Es ist zu bedauern, dass er auch gegen Vertreter der Quantitativen Linguistik eine negative Einstellung hatte. Zipf und sein Prinzip der geringsten Anstrengung sowie sein Gesetz, das heutzutage in mindestens 20 wissenschaftlichen Disziplinen seinen Platz gefunden hat, lehnte er schroff ab. Heute sind Zipfs Entdeckungen die Grundlage der synergetischen Linguistik und sein Prinzip, das axiomatisch gilt, wurde in zahlreiche Spezialfälle aufgespalten. Von Herdan kann man jedoch sehr viel lernen. Es sind nicht so sehr die Methoden und Ansätze, die er benutzte, bzw. die Interpretationen, die er ihnen gab, sondern eher die Fülle der Probleme, die er in die Diskussion brachte. Sicherlich sind manche von ihnen Pseudoprobleme oder nicht gerade adäquat gelöste Ansätze, aber man kann aus ihnen ersehen, welche Richtungen möglich sind. Er wird heute noch immer oft zitiert, im positiven Sinne (vgl. u.a. Köhler, Altmann & Piotrowski 2005; Nikitopoulos 1980). Vielleicht hat er sich in seinen linguistischen Bemühungen allzusehr auf seine eigenen linguistischen Kenntnisse verlassen und jegliche Kooperation mit Linguisten vermieden, im Gegensatz zur Medizin, wo er nur als Statistiker wirkte und mit anderen kooperierte.


Literatur

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Hinweis: Herdan hat allein oder mit anderen zusammen eine ganze Reihe weiterer Untersuchungen veröffentlicht, vor allem zu medizinischen Themen.

Für Unterstützung bei den Recherchen ist herzlich zu danken: Fachbereichsbibliothek Ostasienwissenschaften der Universität Wien (Maja Fuchs), Svitlana Kiyko (Czernowitz), Jürgen Udolph (Leipzig), Ludmila Uhlířová (Prag), Universitätsarchiv Wien (Johannes Seidl), Universitätsbibliothek Wien (Ingrid Ramirer), Andrew Wilson (Lancaster).

Karl-Heinz Best, Göttingen

Gabriel Altmann, Lüdenscheid