Evidentialität

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Evidentialität ist eine linguistische Kategorie, die ausdrückt, von welcher Quelle eine Information stammt. Sie gilt in den Grammatikbeschreibungen der germanischen Sprachen als bisher keine geläufige Kategorie[1]. Dies könnte zum einen daran liegen, dass Evidentialität in den meisten germanischen Sprachen nicht im traditionellen Sinn erscheint und keinen obligatorischen Aspekt darstellt. Zum anderen ist die Forschung an Evidentialität noch sehr jung, denn erst in den vergangenen dreißig Jahren ist das Interesse an der Erforschung von Evidentialität gestiegen. Die erste Annahme zu diesem Themengebiet stammt von Boas aus dem Jahre 1938. Er sagte zu diesem Zeitpunkt bereits, dass Evidentialität Aufschluss über die Quelle der Information geben könnte[2]. Der Hauptbegriff source of information (Informationsquelle) wurde allerdings erst von Jakobson im Jahre 1957 geprägt[3].

Definition

In einigen Sprachen stellt Evidentialität einen obligatorischen Aspekt dar und wird u.a. durch grammatische Morpheme am Verb markiert. Wiederum andere Sprachen drücken Evidentialität fakultativ aus. Die verschiedenen Sprachsysteme, die dieses sprachliche Phänomen beinhalten, unterscheiden sich jedoch stark in ihrer Komplexität[4]. Bußmann (2002) definiert in ihrem Lexikon der Sprachwissenschaft Evidentialität als

"strukturelle Dimension der Grammatik, deren Werte von Konstruktionstypen ausgedrückt werden, die die Quelle der Information kodieren, die ein Sprecher weitergibt. Als primäre Informationsquelle gilt im Allgemeinen die eigene Anschauung (direkte Evidenz); weitere wichtige Informationsquellen sind das Hörensagen (Quotativ) und die Deduktionsfähigkeiten des Sprechers (inferential) (indirekte Evidenz)."[5]

Evidentialitätsmarker geben also nicht nur an, dass einem Sprecher Evidenzen über seine Aussage vorliegen, sondern in der Regel auch die Art der Evidenzen, also ob es sich um direkte oder indirekte Evidentialität handelt[6].

Eine erste einschlägige Arbeit zum Thema Evidentialität stammt von Willett aus dem Jahre 1988. Die bisher herrschende Annahme, dass Evidentialität zweigeteilt (direkt, indirekt) ist, wird durch ihn erweitert, indem er innerhalb der indirekten Evidentialität zwischen reported (berichtet) und inferring (geschlussfolgert) unterscheidet:[7]

"Types of evidence" Willett 1988:57

Plungian (2001) stellt in seinen Ausführungen ebenfalls ein mögliches Modell vor, um die verschiedenen evidentiellen Ausdrücke den Evidentialitätstypen zuordnen zu können. Sein Modell stellt eine Modifizierung von Willetts Modell dar:[8]

"Different types of evidential oppositions" Plungian 2001:353

Plungian unterscheidet zwischen direkter Evidenz (der Sprecher hat die Situation direkt wahrgenommen: visuell oder nicht-visuell), reflektierter Evidenz (Schlussfolgerungen und Vermutungen) und vermittelter Evidenz (Hörensagen), um an die Informationsquelle einer gegebenen Situation zu kommen. Dabei werden direkte und reflektierte Evidenz unter persönlicher Evidenz zusammengefasst. Reflektierte und vermittelte Evidenz gehören zur indirekten Evidenz. Bei den Schlussfolgerungen und Vermutungen (reflektierte Evidenz) kommt es somit zu einer Überschneidung von persönlicher und indirekter Evidenz.

Es treten immer wieder Uneinigkeiten bei der Definition von Evidentialität auf. Es stellt sich beispielsweise die Frage, ob auch lexikalische Ausdrücke Formen von Evidentialität darstellen können oder ob es obligatorisch ist, dass Evidenzmorpheme in einer Sprache vorhanden sein müssen[9]. Eindeutig ist, dass alle Sprachen die Möglichkeit besitzen, die Herkunft einer Information auszudrücken. Mindestens lexikalische Ausdrücke sind für diesen Zweck in einer Sprache vorhanden (z.B. Adverbien im Deutschen wie offensichtlich, angeblich oder ganze Satzteile wie ich habe gehört, dass…). Bei vielen Sprachwissenschaftlern wird Evidentialität jedoch nur dann als linguistische Kategorie angesehen, wenn eine Sprache die Herkunft einer Information auch grammatisch markiert[10]. Lexikalische Ausdrucksformen werden von Vielen meist nicht zum Phänomen gezählt.

Überschneidungen mit anderen linguistischen Kategorien

Oftmals wird Evidentialität mit anderen Kategorien, wie z.B. Modalität, Mirativität, Tempus oder Aspekt, in Verbindung gebracht, da zum Teil Zusammenhänge festzustellen sind. Besonders die Verbindung zur epistemischen Modalität stellt in der Literatur ein viel diskutiertes Thema dar. Einige sehen die beiden Phänomene als streng voneinander getrennte Kategorien an[11], für andere Wissenschaftler wiederum stellt Evidentialität einen Teil der Modalitäts-Kategorie dar[12]. Wenn Evidentialität nicht ganz klar in grammatischer Form, wie z.B. durch Morpheme, die eindeutig nur eine evidentielle Bedeutungen tragen, ausgedrückt wird, stellt sich die Betrachtung von Evidentialität und epistemischer Modalität als schwierig heraus. Vor allem in den germanischen Sprachen scheint die Beziehung bzw. die Unterscheidung zwischen Evidentialität und Epistemizität kompliziert zu sein. Die Schnittstelle liegt dabei meist zwischen epistemischer Modalität und indirekter Evidentialität (Inferenz). Starke epistemische Modalverben werden oftmals auch dafür verwendet, diese indirekte Evidentialität auszudrücken[13]:

    (1) Er soll steinreich sein.[14]

Ebenso können Evidentialität und epistemische Modalität durch ein und dasselbe Element ausgedrückt werden, wie das niederländische moeten verdeutlicht:

    (2) Het moet een goede film zijn.
        Epistemische Übersetzung: „It must be a good movie.“
        Evidentielle Übersetzung: „It is said to be a good movie.“[15]

Epistemische Modalität und Evidentialität zeigen also einige Gemeinsamkeiten, aber ebenso Unterschiede. Deshalb soll eine Unterscheidung zwischen diesen beiden Kategorien zunächst die beste Lösung sein. Vor allem in den germanischen Sprachen können sowohl Evidentialität als auch Modalität durch ein und dasselbe Element ausgedrückt werden, dennoch können die Äußerungen entweder evidentiell oder modal interpretiert werden. Ein weiteres Argument, das gegen Evidentialität und Modalität als eine Kategorie spricht, ist, dass Evidentialität nicht zwangsläufig auf modale Elemente angewiesen ist. Es gibt auch andere Möglichkeiten (z.B. durch Tempus), Evidentialität zu realisieren.

Sprachbeispiele für die Realisierung von grammatischer Evidentialität

Grammatische Evidentialität kann auf unterschiedliche Weise realisiert werden: Die Markierung kann mit dem Tempus zusammenfallen oder durch Affixe, Klitika, Portmanteau-Morpheme bzw. fakultative Morpheme ausgedrückt werden. Außerdem kann Evidentialität in jedem Sprachtyp, d.h. egal ob agglutinierend, isolierend, polysynthetisch oder fusionierend, realisiert werden. Des Weiteren wird zwischen direkter und indirekter Evidentialität unterschieden. Um die verschiedenen Typen der grammatischen Evidentialität zu zeigen, werden im Folgenden einige Sprachbeispiele aufgeführt. Die Beispiele stellen allerdings nur eine kleine Auswahl zur Veranschaulichung der Thematik dar.

Als Beispiel für direkte Evidentialität, die der Sprecher durch sensorische Evidenz erfährt, dient das Tariana, eine bedrohte Sprache im Amazonas-Gebiet. Markiert wird diese visuelle Evidentialität durch das Suffix –ka, das gleichzeitig eine Form der Vergangenheit ausdrückt:

    (3) Juse   irida    di-manika-ka 
        José   football 3sgnf-play-REC.P.VIS
        "José has played football (we saw it)"[16]

Auch die auditive Wahrnehmung gehört zum Typ der direkten Evidentialität. Ein Beispiel hierfür liefert das Koasati, eine muskogeanische Sprache, die in Texas und Louisiana gesprochen wird:

     (4) nipó-k       aksóhka-ha
         meat-SUBJ    char - AUD
         „It souds like the meat is charring.“[17]    

Zur indirekten Evidentialität gehören u.a. die Deduktionsfähigkeiten eines Sprechers, auch Inferenz genannt. Der Sprecher verwendet inferentielle Evidentiale bei einer Schlussfolgerung, die auf physikalischen Beweisen beruht, wie ein Beispiel aus dem Khalkha, einer mongolischen Sprache, verdeutlicht:

      (5) ter     irsen     biz
          he      come    INFER
          „He must have come.“[17] 

Reportative Evidentialität (auch Quotativ) wird realisiert, wenn dem Sprecher von einer anderen Person über eine Handlung oder ein Ereignis berichtet wurde. Als Beispiel dient das Lesgische:

       (6) Qe       sobranie       že-da-Ida
           Today    meeting        be-FUT-QUOT
           „They say that there will be a meeting today.“[17] 

Geographische Verteilung von Evidentiatlität

Insgesamt markieren etwa 25% aller Sprachen Evidentialität obligatorisch. Evidentiale tauchen auf fast allen Kontinenten der Erde auf: In Afrika kommen Evidentiale jedoch nur selten vor. Die einzigen Sprachen, die dieses Phänomen in dieser Region aufweisen, sind Afrikaans (germanische Sprache in Südafrika) und Lega (Bantusprache in Zentralafrika). In den Sprachen Europas (germanische Sprachen außer Englisch) herrscht vor allem indirekte Evidentialität vor. Romanische Sprachen, bis auf das Französische, scheinen nach De Haan keine Evidentiale zu beinhalten. In Asien gibt es zwei Gebiete, in denen evidentielle Systeme hoch frequentiert auftauchen: Das Kaukasus- und Himalaya-Gebiet. In Kaukasussprachen kann Evidentialität mit Tempus- und Aspekt-Morphemen, zum Teil auch durch separate Suffixe, kodiert werden. Auch im Himalaya-Gebiet gibt es Sprachen, die sowohl direkte als auch indirekte Evidentialität markieren. In der Pazifik-Region tendieren die Sprachen eher dazu, keine Evidentiale aufzuweisen. Anders sieht es hingegen auf dem amerikanischen Kontinent aus. In Nordamerika können evidentielle Systeme besonders in Kalifornien (Pomo-Sprachen) und im Südwesten (z.B. Uto-Aztekische Sprachen) gefunden werden. Ebenso tauchen in Südamerika vielseitige Systeme mit indirekter Evidentialität (z.B. in West-Brasilien) auf.[17]


Verteilung von grammatischer Evidentiatlität auf der Welt (De Haan 2013)

Verweise

  1. vgl. Diewald/Smirnova 2010:114
  2. zitiert in Aikhenvald 2004:1
  3. vgl. Plugian 2010:25
  4. vgl. Aikhenvald 2004:3
  5. Bußmann 2002:206
  6. vgl. Diewald/Smirnova 2010:115
  7. Willett 1988:57
  8. Plungian 2001:353
  9. vgl. Squartini 2008:918
  10. vgl. Aikhenvald 2004:6
  11. vgl. Aikhenvald 2004:3f.; Diewald/Smirnova 2010:113
  12. vgl. Willet 1988:54f
  13. vgl. De Haan 2001:207
  14. Palmer 1986:72
  15. De Haan 2001:202
  16. Aikhenvald 2004:2
  17. 17.0 17.1 17.2 17.3 De Haan 2013, http://wals.info/chapter/77

Literaturverzeichnis

  • Aikhenvald, A. 2004. Evidentiality. Oxford: Oxford University Press.
  • Bußmann, H. 2002. Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart: Kröner Verlag.
  • De Haan, F. 2001. The Relation between Modality and Evidentiality. In: Müller, R. & Reis, M. (eds.). 2001. Modalität und Modalverben im Deutschen. Linguistische Berichte, Sonderheft 9/2001. Hamburg: Helmut Buske Verlag. 201-216.
  • De Haan, F. 2013. Semantic Distinctions of Evidentiality. In: Dryer, M. S. & Haspelmath, M. (eds.). 2013. The World Atlas of Language Structures Online. Leipzig: Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology. (Available online at http://wals.info/chapter/77, Accessed on 2014-05-12.)
  • Diewald, G. & Smirnova, E. 2010. Abgrenzung von Modalität und Evidentialität im heutigen Deutsch. In: Katny, A. & Socka, A. (eds.). 2010. Modalität/Temporalität in kontrastiver und typologischer Sicht. Frankfurt am Main: Internationaler Verlag der Wissenschaften. 113-132.
  • Palmer, F. R. 1986. Mood and Modality. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Plungian, V. 2001. The place of evidentiality within the universal grammatical space. Journal of Pragmatics 33. 349-357.
  • Plungian, V. 2010. Types of verbal evidentiality marking: an overview. In: Diewald, G. & Smirnova, E. (eds.). 2010. Linguistic realization of evidentiality in European languages. Berlin/New York: Walter de Gruyter. 15-58.
  • Squartini, M. 2008. Lexical vs. grammatical evidentiality in French and Italian. Linguistics, 917-947.
  • Willett, T. 1988. A cross-linguistic survey of the grammaticization of evidentiality. Studies in Language 12. 51–97